Ich habe meine Abschlussarbeit für die Tanztherapie-Ausbildung zum Thema „Tanztherapie mit Flüchtlingen – Ankommen in der Fremde“ geschrieben – im Folgenden finden Sie daraus einige Ausschnitte. Die gesamte Abschlussarbeit kann man sich hier als PDF herunterladen.

Tanztherapie mit Flüchtlingen – Ankommen in der Fremde

Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man gegen seinen Willen seine Heimat verlassen muss, Menschen, die man liebt, zurück lassen muss, um fortan in einem fremden Land, einer fremden Kultur, mit einer fremden unbekannten Sprache zu leben, und dann auch noch die Erfahrung zu machen, unwillkommen zu sein. Ich weiß, wie es ist, traumatische Erfahrungen zu machen und sie nicht verbal oder nonverbal verarbeiten zu können.

Und ich weiß, wie gut es tut, in einer Therapieform wie der Tanztherapie nicht für alles genaue Worte finden zu müssen, durch nonverbale Interventionen auf innere Kernthemen zu stoßen, Traumata aufzuarbeiten und zu erfahren, wie durch die ressourcenorientierte Arbeit das eigene Selbstbewusstsein und die Selbstsicherheit wachsen.

Dies sind wahrscheinlich ein paar der Gründe, warum mir die Arbeit mit Flüchtlingen so am Herzen liegt und es mich als Tanztherapeutin in dieses Arbeitsfeld zieht.

Aus dem Inhalt:

Kommunikation
Interkulturelle Kommunikation
Warum Tanztherapie als Methode?

Kommunikation

Der Duden definiert Kommunikation als: „Verständigung untereinander; zwischenmenschlicher Verkehr besonders mithilfe von Sprache, Zeichen“.

Laut Watzlawick „ist Kommunikation ganz offensichtlich eine Conditio sine qua non menschlichen Lebens und gesellschaftlicher Ordnung. Und ebenso offensichtlich ist, dass der Mensch von den ersten Tagen seines Lebens an die Regeln der Kommunikation zu erlernen beginnt, obwohl diese Regeln selbst, dieser Kalkül der menschlichen Kommunikation, ihm kaum jemals bewusst werden.“ (2011, S. 13)

Ich beschäftige mich schon seit langem mit großer Begeisterung mit dem Thema Kommunikation, vor allem den nonverbalen und interkulturellen Anteilen, weil es mich zum Einen (aufgrund meiner Biographie) besonders betrifft, und weil mir zum Anderen die Kommunikation hilft, andere zu verstehen.

Scharf-Widder formuliert in ihrer Arbeit „Interventionen in der Tanztherapie“ (2009):

Gemeinsam ist den verschiedenen tanztherapeutischen Ansätzen die Verwendung von Tanz und Bewegung zur Kommunikation und Interaktion, die konfliktorientierte Arbeit mit den expressiven Möglichkeiten des Körperausdrucks und die Bearbeitung unbewusster Erlebnisinhalte durch authentische Bewegung. (S. 3)

 

Verbal

Verbale Kommunikation verläuft digital und besteht aus einem kodierten, willkürlichen Zeichen zu einer Zeit (s.u.). Sie entsteht aus dem Inhalt der Worte, die ich sage; dabei steht der Sachinhalt im Vordergrund.

Es würde leider den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf alle Grundlagen verbaler Kommunikation einzugehen, deshalb hier nur der Hinweis auf die Reihe von Friedemann Schulz von Thun „Miteinander reden“, in der es unter anderem um die Psychologie der Kommunikation geht (sehr empfehlenswert ist die Sonderausgabe Oktober 2014 im Rowohlt-Verlag im Schuber). Weiterhin hilfreich sind auch Kenntnisse (und Fähigkeiten in der Anwendung) über die Transaktionsanalyse von Eric Berne  und das Gordon-Modell (s. Literaturhinweise).

Näher eingehen möchte ich hier auf den oben bereits zitierten Paul Watzlawick,  österreichisch-amerikanischer Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut, Soziologe, Philosoph und Autor, dessen erstes  Axiom  gewöhnlich jedes Mal zitiert wird, wenn es um das Thema Kommunikation geht:

 

Axiome von Paul Watzlawick  (Watzlawick, 2011, S. 58ff und Erll & Gymnich, 2011, S. 96ff):

  1. Die Unmöglichkeit nicht zu kommunizieren oder Man kann nicht nicht kommunizieren
  • Sobald sich zwei Menschen in einem gemeinsamen ‚Raum‘ aufhalten, findet Kommunikation statt, da jede Interaktion, auch ein bewusstes Ignorieren, eine Aussagekraft hat und vom anderen wahrgenommen wird;  man sich also genauso wenig ‚nicht verhalten‘ kann wie ‚nicht kommunizieren‘.
  1. Die Inhalts- und Beziehungsaspekte der Kommunikation oder Beziehung und Bedeutung
  • Die Beziehung der Kommunikationspartner beeinflusst die Bedeutung des Gesagten – vor allem in ‚high-context‘-Kulturen (s. u.)
  • „Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, derart, dass letzterer den ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation[1] ist.“ (Watzlawick, 2011, S. 64)
  • „Tanz ist schließlich auch ein kommunikatives, und mithin soziales Phänomen, allerdings anders als Sprache. Tanz spricht unmittelbar von Mensch zu Mensch.“ (Wilke, Hölter & Petzold, 1992, S. 39)
  1. Die Interpunktion von Ereignisfolgen oder Regeln der Sequenzierung
  • Abfolge kommunikativer Handlungen und Themen
  • „So bringt z. B. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur auch ganz bestimmte, ihr eigene Interpunktionsweisen mit sich, die zur Regulierung dessen dienen, was – aus welchen Gründen auch immer – als „richtiges“ Verhalten betrachtet wird.“ (Watzlawick, S. 66)
  • „Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt.“ (Watzlawick, S. 69f)
  1. Digitale und analoge Kommunikation
  • Gemeint ist der Unterschied zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation (siehe ausführlich weiter unten); sie können sich jeweils stützen, ergänzen, verstärken oder auch widersprechen.
  • „Menschliche Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten. Digitale Kommunikationen haben eine komplexe und vielseitige logische Syntax, aber eine auf dem Gebiet der Beziehungen unzulängliche Semantik. Analoge Kommunikationen dagegen besitzen dieses semantische Potential, ermangeln aber der für eindeutige Kommunikationen erforderliche Syntax.“ (Watzlawick, S. 78)
  1. Symmetrische und komplementäre Kommunikation
  • Es spielt in der Kommunikation eine Rolle, ob sich die Menschen sozusagen auf Augenhöhe begegnen (symmetrisch) oder es eine – wie auch immer geartete –  Hierarchie gibt (komplementär). Eine Therapeut-Klient-Beziehung ist per se eine komplementäre Beziehung.
  • „Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht.“ (Watzlawick, S. 81)

Auch wenn im Rahmen der Tanztherapie immer wieder ihr nonverbaler Charakter im Gegensatz zu den rein verbal orientierten Therapieformen betont wird, hat Scharf-Widder in ihrer Untersuchung (siehe „Interventionen in der Tanztherapie“, 2009) festgestellt, „dass die verbalen Interventionen in der Tanztherapie von erheblicher Bedeutung sind.“ (S. 198)

 

Nonverbal

Nonverbale Kommunikation  findet analog (s.u.) statt, meistens gleichzeitig bei beiden Kommunikationspartnern, und sie kann auch ohne verbale Kommunikation stattfinden.

Es gibt eine universale nonverbale Kommunikation (sogenannte Mikroausdrücke, die unbewusste Grundemotionen ausdrücken) und kulturspezifische Ausprägungen, wie z.B. Gesten oder Mimik, die sowohl bewusst als auch unbewusst stattfinden können (Beispiele hierzu bei Scharf-Widder, Erll & Gymnich und Broszinsky-Schwabe).

Bereiche der nonverbalen Kommunikation, die innerhalb einer Kultur alle zum Tragen kommen, im interkulturellen Kontext allerdings sehr stark variieren können (Erll & Gymnich, 2011, S. 111):

  • Gestik (Bewegungen von Fingern, Händen, Armen und Kopf)
  • Mimik (Bewegungen der Gesichtsmuskeln, v.a. im Bereich des Mundes, der Augen, der Augenbrauen und der Stirn)
  • Blickverhalten[2]
  • Proxemik (der körperliche Abstand zwischen den Gesprächspartnern)
  • Haptik (das Berührungsverhalten)
  • Paralinguistische Codes (nonverbale vokale Kommunikation; Gebrauch der Stimme, des Stimmvolumens, der Stimmlage, der Intonation etc.)

Beispiel zum Bereich Proxemik (Erll & Gymnich, S. 116)

Scharf-Widder hat als Psychologin in ihrer Arbeit den therapeutischen Prozess in der Tanztherapie aus der Perspektive des Therapeutenverhaltens untersucht. Dabei benutzte sie als Methode die Theorie der nonverbalen Kommunikation und untersuchte die Bedeutung einzelner Körpersignale und ihre Relevanz für die Tanztherapie. Sie konzentrierte sich dabei auf die Synchronizität der Körperbewegungen, das räumliche Verhalten, die Körperorientierung und den Körperkontakt (2009, S. 78ff).

Wilke, Hölter & Petzold (1992) beschreiben die Unfähigkeit vieler Patientinnen, Erfahrungen und Erlebnisse adäquat in Worte zu fassen, weil sie entweder ‚prä-verbal‘ (vor der Sprache) entstanden oder (laut Petzold, vgl. 1987, S127f) ‚transverbal‘ sind, also „sprachlich nur doch durch Umschreibungen und Metaphern zu fassen sind.“ (S. 40)

Für elementare Gefühle und Affekte, die den Menschen stumm oder sprachlos lassen und in Situationen, in denen etwas unaussprechlich wir, kann der Tanz zum ganzheitlichen leiblichen Ausdrucksmedium werden. Ein Teil der therapeutischen Arbeit ist es jedoch auch, neben dem Ausdruck in Gesten, Bewegung, Farbe und Klängen den differenzierten Ausdruck in der Sprache zu fördern. Die Durchdringung von Verbalität und Non-Verbalität (Permeation) ist für unseren (integrativen Tanztherapie-) Ansatz wesentlich. (S. 40)

 

Interkulturelle Kommunikation

Der Begriff ‚Interkulturelle Kommunikation‘ wurde von Edward T. Hall geprägt. Ich arbeite im Folgenden mit dem ‚engen Begriff‘, der bedeutet, dass „zwei oder mehr Individuen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund mittels Sprache oder nonverbalen Ausdrucksmitteln unmittelbar (face-to-face) miteinander kommunizieren.“ (Erll & Gymnich, 2011, S. 77) [3]

Broszinsky-Schwabe schreibt in der Einleitung ihres Buches „Interkulturelle Kommunikation“ (2011):

Das Besondere der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist, dass wir Menschen mit einer anderen Sprache, anderem Verhalten, anderen Essgewohnheiten, anderen Werten nicht erst in einem anderen Land in großer Entfernung begegnen, sondern mit ihnen Tür an Tür im eigenen Land leben. Das neue ist: Interkulturelle Kommunikation findet überall statt und betrifft uns alle. Es gibt fast keine Menschen auf der Erde, die so isoliert leben, dass sie keinem Fremden begegnen und sich zwangsläufig mit ihm verständigen müssen. (S.15)

Bevor wir uns mit dem Begriff „interkulturell“ näher beschäftigen können, brauchen wir eine Definition des Wortes Kultur:

Laut Duden bedeutet es unter anderem:

  1. Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung.
  2. Gesamtheit der von einer bestimmten Gemeinschaft auf einem bestimmten Gebiet während einer bestimmten Epoche geschaffenen, charakteristischen geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen.

 

Erll & Gymnich (2011, S. 19ff) definiert Kultur als die kollektive Konstruktion der Wirklichkeit; das bedeutet ein System von Konzepten, Überzeugungen, Einstellungen und Wertorientierungen, bzw. „die Art und Weise, wie die Menschen leben und was sie aus sich selbst und ihrer Welt machen“.

Dazu gehören Umgangsformen, ‚gesunder Menschenverstand‘, religiöse Überzeugungen, Konzepte über Raum und Zeit, Werte und Normen. Dies sind alles kulturelle Konstrukte und dementsprechend weder natürlich, normal noch selbstverständlich. Viele dieser Konstrukte sind nicht auf der bewussten Ebene präsent und führen dadurch besonders leicht zu Missverständnissen bis Konflikten, da sie ggf. beim Anderen als genauso gegeben vorausgesetzt werden.

Ein anderer Bestandteil von Kultur sind die Formen kulturellen Wissens (Erll & Gymnich, 2011, S. 59f), die unterteilt werden in das Wissen über die eigene Kultur und über fremde Kulturen und deren jeweiligen Wirklichkeitsbilder. Interessant wird es, wenn man bedenkt, dass es bei beiden Formen jeweils bewusste (=explizite) und unbewusste (=implizite) Formen des Wissens gibt:

Explizites Wissen bedeutet „knowing that“, (Fakten-)Wissen, während implizites Wissen „knowing how“ bedeutet, also Norm- und Handlungswissen, etwas, worüber sich normalerweise niemand Gedanken macht, z. B. wie eine Begrüßung stattfindet (was wie gesagt wird, in welchem Abstand man zueinander steht, die Dauer der Begrüßung etc).

Aber selbst alles Bewusstmachen und Wissen reichen nicht aus, denn es bedeutet nicht gleich Verstehen; „Verstehen ist mit emotionalen Aspekten verknüpft. Interkulturelles Verstehen basiert auf Empathiefähigkeit und der Fähigkeit zum Perspektivwechsel“ (Erll & Gymnich, 2011, S. 60) und erst dann kann von interkultureller Kompetenz (s. u.) gesprochen werden.

 

Zum Thema Empathie schreibt Petra Klein:

Die innere Haltung der TherapeutIn, die von Wertschätzung, Empathie und Echtheit getragen sein sollte, lässt den Boden für die vertiefende tanztherapeutische Arbeit entstehen. Die Kategorien „Wertschätzung“, „Empathie“ und „Echtheit“ entstammen dem Konzept der Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers (vgl. Rogers 1973b, Tausch1974).

(Klein,  1998, S. 77f)

 

Strukturmerkmale von Kulturen

Die Untersuchung der vom Kommunikationswissenschaftler Gerhard Maletzke entwickelten Strukturmerkmale von Kulturen (nach Gerhard Maletzke; Erll & Gymnich, 2011, S. 38ff) helfen, im Einzelnen zu begreifen, wo Unterschiede und damit potenzielle Probleme in der Begegnung unterschiedlicher Kulturen liegen können:

  1. Wahrnehmung
  • Wahrnehmung ist immer selektiv und kulturspezifisch, d. h. davon abhängig, was in der eigenen Kultur als wichtig angesehen wird.
  1. Zeiterleben[4]
  • Im Zeiterleben wird zwischen monochronen versus polychronen Kulturen unterschieden  (nach E.T. Hall (1959), einem der Begründer der interkulturellen Kompetenz-Forschung. Damit sind zwei fundamental unterschiedliche Ansätze gemeint, die häufig zu Missverständnissen und Konflikten führen können (s. u. im Praxisteil), nämlich, wie rigide oder flexibel die Zeiteinteilung gehandhabt wird, welchen Stellenwert sie hat und wie mit ihr umgegangen wird.
  • Da dieser Punkt – neben dem offensichtlichen Problem der verbalen und nonverbalen Sprachverständigung – bei meinen Interviews am deutlichsten sichtbar wird, hier noch eine Gliederung von Hall, die die jeweiligen Vor- und Nachteile deutlich macht und damit zeigt, dass keines dieser Verhalten per se ‚besser‘ ist als das andere:


 

(Hall 1959; zitiert nach Broszinsky-Schwabe, 2011, S. 36)

Ich finde es interessant, dass sich der Eine oder Andere vielleicht (auch trotz einer Sozialisation in Deutschland) im polychronen Verhalten eher wieder findet als im monochronen, aber nichtsdestotrotz wird bei dieser Aufzählung deutlich, wie vieles unbewusst verläuft und Raum bietet für Vorurteile bzw. Verurteilungen, gerade da in dieser Aufzählung Themen vorkommen, die ich gar nicht unter der Rubrik ‚Zeiterleben‘ erwartet hätte.

 

  1. Raumerleben [5]
  • Hier geht es sowohl um die Gestaltung und Bedeutungszuschreibung des Raumerlebens, als auch die Trennung von öffentlichem und privaten Raum, sowie um die Interaktions­distanz bzw. Proxemik (s.o.). Auch dieses weitgehend unbewusste Verhalten wurde als erstes von (dem Amerikaner) Hall erforscht. Er unterschied im Wesentlichen vier räumliche Distanzen:
  1. Intime Nähe (von Hautkontakt bis 45 cm Abstand)
  2. Persönliche Distanz (zwischen 45 cm und 120 cm)
  3. Soziale Distanz (120 cm bis 220 cm)
  4. Öffentliche Distanz (ab 3,5 Meter)

(vgl. Hall 1959, S. 208 f., aus Broszinsky-Schwabe, S. 141f)

 

  1. Denken
  • Es gibt nach Maletzke (1996: 63-7; in Erll & Gymnich, 2011) die vier Gegensatzpaare logisch-prälogisch, induktiv-deduktiv, abstrakt-konkret und alphabetisch-analphabetisch, bei denen es allerdings teilweise schwierig ist, wertneutral heranzugehen.
  • „Mehr Sinn macht es hingegen, sich einmal die Frage zu stellen, warum der Denkstil der einen Kultur sich von dem einer anderen Kultur unterscheidet. Solche Unterschiede lassen sich durch das Konzept der ‚Bezugsrahmen‘ oder frames of reference erklären – der im Verlauf des Heranwachsens in einer Kultur erworbenen Schemata, welche die Wahrnehmung, das Denken und die Erinnerung in bestimmte Bahnen lenken.“ (Erll & Gymnich, 2011, S. 41)

 

  1. Sprache und nichtverbale Kommunikation
  • Unsere Sprache prägt unsere Weltsicht, auf Ebenen, die uns zum großen Teil nicht bewusst sind; Kulturen sind nicht umsonst häufig nach Sprachräumen kategorisiert
  • Hierbei hat Hall (1959) die Unterscheidung zwischen low context versus high context eingeführt.
  • Mit low context sind Kulturen gemeint, die eher kontextungebunden und auf einer Sachebene kommunizieren
  • „In kontextgebundenen (high context) Kulturen hingegen scheint die Bedeutung in der Kommunikation nicht so sehr von den Wörtern selbst zu stammen, sondern hängt in erster Linie vom Kontext des Gesprächs und der Beziehung untereinander ab.“ In diesen Kulturen wird weniger ausdrücklich und konkret kommuniziert, sondern teilweise mit Andeutungen und Ellipsen, in der Erwartung, dass der andere – aufgrund des gleichen kulturellen Hintergrunds – das Ausgelassene verstehen wird. Japan ist dafür – aus meiner eigenen Erfahrung heraus – das Paradebeispiel schlechthin.

 

  1. Wertorientierungen
  • Bei Wertorientierungen geht es um kulturspezifische Werte und Normen, auch Kulturdimensionen genannt (s.u.).

 

  1. Verhaltensweisen
  • Verhaltensweisen sind durch die Normen und Werte einer Kultur geprägt und werden, da sie zumeist unbewusst sind, nicht hinterfragt –  häufig sogar dann, wenn sie zu Konflikten führen. Das bedeutet, dass die Konfliktursache nicht erkannt werden kann, solange keine Selbstreflexion stattfindet bzw. entsprechende Informationen über die andere Kultur erworben werden.[6]

 

  1. Soziale Beziehungen
  • „Die Gliederung der Gesellschaft ist ein traditioneller Forschungsgegenstand der Kulturanthropologie und Soziologie, weil dieses äußere Ordnungssystem viel über das innere, das mentale System einer Gruppe verrät.“ (S.43)
  • Dazu gehören die Familie und Verwandtschaftsbeziehung, Klassen und Kasten, das Verhältnis Individuum-Gruppe etc.

Kulturdimensionen

Das bekannteste und am meisten verbreitete Modell zur Erfassung kultureller Unterschiede sind die fünf Kulturdimensionen nach Geert Hofstede (Erll & Gymnich, 2011, S. 44ff). Ich erwähne es noch in aller Kürze, weil es unbewusste Ebenen deutlich macht, die bei Diskrepanzen zu Problemen und Konflikten führen können. Nach diesem Modell gibt es fünf zentrale Dimensionen:

  1. Machtdistanz (Macht- und Autoritätsunterschiede, Hierarchiegefälle  – Beispiel vietnamesischer Pflegekinder bei Kumbier, 2006, S. 108ff).
  2. Individualismus/Kollektivismus (lockere Bindung, Kleinstfamilien versus starke, geschlossene Wir-Gruppen mit bedingungsloser Loyalität) – bis heute herrscht bei 70% aller Kulturen der Kollektivismus vor, so auch im arabischen Raum.
  3. Maskulinität/Feminität (auch Unterscheidung in ‚harte‘ und ‚weiche‘ Kulturen; Abgrenzung der Geschlechterrollen).
  4. Unsicherheitsvermeidung (unterschiedliches Bedürfnis nach geschriebenen und ungeschriebenen Regeln).
  5. Langzeit-/Kurzzeitorientierung (Hegen von Tugenden, die auf künftigen Erfolg ausgerichtet sind versus Hegen von Tugenden, die mit der Vergangenheit und Gegenwart in Verbindung stehen; in Auseinandersetzung mit dem Konfuzianismus entwickelt).

 

Interkulturelle Kompetenz

„Interkulturelle Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren in Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten und einer Entwicklung hin zu synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und Weltgestaltung.“ (Thomas, 2003, S. 143 aus Erll & Gymnich, 2011, S. 10)

Interkulturelle Kompetenz ist laut Erll & Gymnich (2011, S. 6ff) eine Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts und besteht aus drei Teilkomponenten:

  1. Kognitive Kompetenz

Wissen über andere Kulturen, kulturtheoretisches Wissen, Selbstreflexivität

  1. Affektive Kompetenz

Interesse und Aufgeschlossenheit, Empathie und Fähigkeit des Fremdverstehens, Ambiguitätstoleranz – „we agree to disagree“

  1. Pragmatisch-kommunikative Kompetenz

Einsatz geeigneter kommunikativer Muster und wirkungsvoller Konfliktlösungsstrategien

 

 

Es gibt verschiedene Ebenen, auf denen mögliche Probleme auftreten können, die jeweils unterschiedliche Lösungsansätze erfordern:

Auf der sprachlichen Ebene

  • Die sprachliche Kompetenz ist begrenzt, es gibt eingeschränkte Kenntnisse, ein begrenztes Ausdrucksrepertoire.
  • Nuancen oder Ironie können nicht verstanden und damit nicht eingesetzt werden.
  • Sprachliche Konstellationen spielt eine Rolle: wird die Muttersprache von einer der Beteiligten gesprochen oder sprechen alle eine Fremdsprache? Wie groß ist dabei die Schnittmenge?

 

Auf der Inhaltsebene

  • Es kann Diskrepanzen hinsichtlich des kulturellen Wissens oder des Werte- und Normensystems der Gesprächspartner geben, die im Alltagsgeschehen meistens unwesentlich sind, aber im therapeutischen Setting sehr wohl eine Rolle spielen können.
  • Es kann unterschiedliche Tabuthemen geben (z. B. Geld, Alter, Privates). Diese können sehr unterschiedlich wahrgenommen und im Vorhinein nicht bewusst sein.

 

„In wohl jeder Kultur gibt es bestimmte Tabuthemen, also Themen, die in persönlicher Kommunikation wie auch in mediatisierter Kommunikation nicht angesprochen werden sollen. … Zudem variieren Tabuthemen von Kultur zu Kultur, schlagen sich in ihnen doch die Wertevorstellungen einer Kultur und oft auch religiöse Überzeugungen nieder. Dass im islamischen Kulturkreis Körper und Sexualität im öffentlichen Raum zu den Tabuthemen zählen, ist hinlänglich bekannt.“ (Erll & Gymnich, 2011, S. 107)

 

Auf der Beziehungsebene

  • Diese ist eine häufige Quelle für Probleme, u.a. wegen der sog. ‚critical incidents‘ (Begrüßung,  Gesprächsorganisation, Strategien der Konfliktbewältigung, u.a.).
  • Machtverhältnisse (Asymmetrie aus sozialen Faktoren oder der interkulturellen Begegnung selbst).

 

Auf der Ebene der nonverbalen Kommunikation

  • Gesten und Mimik können in unterschiedlichen Kulturen völlig unterschiedliche Bedeutung haben; es gibt einen unterschiedlich ausgeprägten Einsatz von Mimik und Gestik, d.h. es variiert, was als angemessen und höflich empfunden wird (Erll & Gymnich, 2011, S. 112ff).
  • Vor allem ein angemessener Blickkontakt ist kontext- und kulturabhängig (ebd., S. 114).
  • Proxemik, also die Frage, welcher Abstand als angemessen und angenehm wahrgenommen wird, variiert kulturabhängig sehr (s. o.).
  • Haptik (Berührungsverhalten, Tabuzonen, Abstand bei Begrüßungen von Umarmung über Händedruck bis Verbeugung).
  • Paralinguistische Signale sind auf der einen Seite sehr individuell, auf der anderen Seite auch kulturabhängig (was z.B. als schnell oder laut wahrgenommen wird). Unterschiedliche Intonation kann zu Verwirrung und Missverständnissen führen (zum Beispiel eine steigende Intonation am Ende eines Satzes bei einer Frage wie im Deutschen, die es in vielen anderen Sprachen nicht gibt).

 

„Interkulturelle Kompetenz ist weder ein statischer Zustand noch das direkte Resultat einer einzelnen Lernerfahrung“ (Bertelsmann Stiftung 2006: 7; zitiert nach Erll & Gymnich, 2011,S. 14)

Aber: nicht jeder Konflikt muss interkulturell bedingt sein, wie Wiechelmann in ihrem Kapitel „War das nun ein interkulturelles Missverständnis? Von der Gefahr, vor lauter Kultur die Person aus dem Blick zu verlieren“ (Kumbier, 2006, S. 323ff) beschreibt. In ihrem vorgestellten Beispiel stellt sich ein Konflikt weniger als einer zwischen zwei Kulturen als eher zwischen zwei Persönlichkeiten heraus.

Die Gefahr einseitiger kultureller Erklärungsmuster liegt jedoch nicht nur darin, dass sie personale Konfliktursachen verdecken, sondern sie sind zudem dynamisch. Denn, werden kulturelle Fehlinterpretationen nicht überprüft und korrigiert, bieten sie sich als nunmehr bewährte Deutungsschlüssel auch für zukünftige Konflikte an. (S. 332)

 

Warum Tanztherapie als Methode?

Ich habe in den vorherigen Kapiteln bereits einige Bezüge zur Tanztherapie hergestellt, einschließlich einer Definition, deshalb möchte ich hier einige Zitate sprechen lassen, um auch denjenigen einen Einblick in dieses spannende Arbeitsfeld zu geben, die darin nicht zuhause sind:

Tanz und Tanztherapie:

Sie (die Tanztherapie) greift auf eines der ältesten therapeutischen und künstlerischen Medien der Menschheit zurück – den Tanz. Tanz gilt als eine der ersten und ältesten Formen menschlichen Ausdrucksstrebens überhaupt. Tanztherapie hat im Tanz als gestalteter, beseelter Bewegung ein Medium, das Kennzeichen für alles Leben und lebendige Sein überhaupt ist: Nur wo Bewegung ist, ist Leben. (Willke, Hölter und Petzold, 1992, S. 13)

Pionierinnen der Tanztherapie:

Als einige herausragende Tänzerinnen in den USA an psychiatrischen Kliniken und privaten Praxen zu arbeiten begannen, war der Weg frei, Tanz als Heilungs- und Behandlungsmethode wieder zu entdecken und in seinen modernen Aspekten zu erforschen. Mary Whitehouse und Marian Chace (s.u.) … waren so sehr an der Interaktion von Psyche und Körper interessiert, dass sie sich nur noch auf die psychotherapeutischen Aspekte von Tanz konzentrierten. Der Übergang von Selbstausdruck im Tanz zu Psychotherapie durch Tanz wurde hierdurch vollzogen. (ebd., S. 15)

Menschenbild in der Tanztherapie:

Folgende wesentliche Merkmale charakterisieren die tanztherapeutische Methodik und Theoriebildung: Der Tanztherapie liegt ein ganzheitliches Menschenbild zugrunde. Über die eigene Erfahrung in der Bewegung und im Tanz wird der Mensch nicht nur in seinem körperlichen, sondern auch in seinem emotionalen und geistigen Erleben angesprochen. Diese holistische Annahme der Körper-Geist-Seele-Einheit misst auch der kognitiven, verstandesmäßigen Verarbeitung des Tanzerlebens im aufarbeitenden Gespräch ihren Stellenwert zu. Neben der Einsicht in die eigene Lebensthematik stellt das körperlich-sinnlich erfahrene Problem den Ansatzpunkt des therapeutischen Prozesses dar. Auf dem Weg über ein neues Körperbewusstsein gelangt der Mensch auch zu größeren Möglichkeiten, seine Situation intellektuell zu erfassen und zu verarbeiten und verbal zu artikulieren. (Klein, 2007, S. 25)

Psychoanalytische Tanztherapie:

Im Mittelpunkt der Methode (der psychoanalytischen Tanztherapie) stehen Übertragungs- und Widerstandsphänomene des Patienten, die sich körperlich während seiner Improvisation zeigen. Dabei werden Übertragungserscheinungen auf der nonverbalen Ebene genauso behandelt wie solche auf der sprachlichen Ebene. Ich versuche soweit wie möglich den gesamten Menschen zu erfahren, nicht nur seine Bewegung oder nur seine Worte. Desgleichen achte ich nicht nur auf seine konflikthaften Symptome, sondern auch auf seine Ichstärke und Willenskraft, seine Intuition und seine Wahrnehmung. (Biographische Notiz ohne Datum, Chaiklin 1975, S. 11, zitiert nach Siegel, 1997, S. 31)

Systemische Tanztherapie:

Die Tanztherapie versteht sich als eine ganzheitliche Therapieform, in der die Exploration und Expression der Bewegung etwas über den Menschen in seinem psychophysischen Sein aussagt. (Bender, 2014, S. 11)

Definition der American Dance Therapy Association:

Based on the empirically supported premise that the body, mind and spirit are interconnected, the American Dance Therapy Association defines dance/movement therapy as the psychotherapeutic use of movement to further the emotional, cognitive, physical and social integration of the individual.

Dance/movement therapy is:

  • Focused on movement behavior as it emerges in the therapeutic relationship.  Expressive, communicative, and adaptive behaviors are all considered for group and individual treatment.  Body movement, as the core component of dance, simultaneously provides the means of assessment and the mode of intervention for dance/movement therapy.

  • Is practiced in mental health, rehabilitation, medical, educational and forensic settings, and in nursing homes, day care centers, disease prevention, health promotion programs and in private practice.

  • Is effective for individuals with developmental, medical, social, physical and psychological impairments.

  • Is used with people of all ages, races and ethnic backgrounds in individual, couples, family and group therapy formats.

(http://www.adta.org/about_dmt, abgerufen am 05.02.2016)[1]

 

Die Tanztherapie eignet sich als gesprächs- und körperorientierte Psychotherapieform  besonders für die Arbeit mit Flüchtlingen, da:

  1. sie eine ressourcenorientierte Therapieform ist. Das bedeutet, dass nicht defizitorientiert gearbeitet wird, sondern die Klientin in ihrer Ich-Stärkung und ihren Fähigkeiten gesehen und gefördert wird.
  2. Resilienzförderung sowieso eine große Rolle spielt und nicht als zusätzliche Methode eingebaut werden muss.
  3. sie weniger auf die verbale Sprache angewiesen ist als rein verbal orientierte Therapieformen.
  4. in einem Kontext mit unterschiedlichen Sprachen und kulturellem Hintergrund eine Tanztherapeutin geschulter und sensibilisierter ist, nonverbale Signale, Schattenbewegungen etc. wahrzunehmen und darauf zu reagieren.
  5. es in der Tanztherapie eine breite Palette an Möglichkeiten gibt, zu arbeiten, ohne dass sich die Menschen „krank“ fühlen müssen (Bewegungen können spielerisch oder im Tanz, im Einzel- oder Gruppensetting stattfinden).

 

Trotzdem gibt es noch zusätzliche Faktoren, die bei der tanztherapeutischen Arbeit mit Flüchtlingen berücksichtigt werden müssen:

  • die Frage nach der inneren Haltung der Therapeutin dem Flüchtlingsthema gegenüber allgemein
  • Offenheit, sich mit der jeweiligen Kultur und möglichst auch Sprache und Musik der jeweiligen Klientin zu beschäftigen
  • Interkulturelle Kompetenz
  • Neben profunden Kenntnissen in ihrem Beruf als Tanztherapeutin möglichst auch Kenntnisse über und Erfahrung mit den Themen Trauma und Resilienz (s.u.).

Ich möchte eine konkrete grundlegende tanztherapeutische Methode vorstellen, die (zumindest in Ansätzen) von einer der beschriebenen Fälle im Praxisteil angewendet wurde:

 

Chace-Ansatz

Marian Chace (1886-1970) war Tänzerin und Tanzlehrerin und gilt als eine der „Mütter der Tanztherapie“ (Willke, Hölter, Petzold, 1992, S. 10). Siegel nennt sie sogar „die bekannteste und gewiss die einflussreichste Pionierin der Tanztherapie.“[2]

Kletti-Ranacher beschreibt in ihrem Artikel „Der Chace Ansatz in der Tanztherapie“[3] wie Chace die Möglichkeit, Tanz als Therapie zu nutzen, während ihres Tanzunterrichtes entdeckte. „Sie ‚sah‘ am Körperausdruck ihrer Schüler deren Bedürfnis nach Kommunikation und den Wunsch, ihren eigenen Körper besser zu verstehen und nicht so sehr den Tanz als Kunstform zu erlernen.“ (S. 34) In den 40er und 50er Jahren arbeitete sie unter anderem mit autistischen und psychotischen Patientinnen und entwickelte das Prinzip des ‚Spiegelns‘: „Das Aufgreifen der Bewegungen der Patienten, vor allem in ihrem emotionalen Gehalt, das Herstellen synchroner Bewegungen durch empathisches Eingehen auf die ganz eigenen Bewegungsmuster schufen den Raum, an eben diesen zu arbeiten.“ (S. 35) Erst Jahrzehnte später entdeckte Giacomo Rizzolatti – durch Zufall, wie er in seinem, mit dem Philosophen Corrado Sinigaglia zusammen geschriebenen Buch „Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls“ beschreibt– die Spiegelneuronen, die als eine der großen wissenschaftlichen Sensationen der letzten Jahre gelten.

Spiegelneuronen liefern zweifellos zum ersten Mal in der Geschichte eine plausible neurophysiologische Erklärung für komplexe Formen der sozialen Wahrnehmung und Interaktion. Indem sie uns die Handlung anderer Menschen erfassen lassen, helfen Spiegelneuronen uns auch, die tieferen Beweggründe hinter diesen Handlungen, die Absichten anderer Personen zu ergründen. (Iacobini, 2011, S.13f)

Chace hat also intuitiv, ohne wissenschaftliche Grundlage, die Wirkungsweise der Spiegelneuronen für ihre Arbeitsweise genutzt. Ihre Tanztherapie-Stunden begannen und endeten idealtypisch im Kreis, um allen die Möglichkeit zu geben, zu sehen und gesehen zu werden, und sich dadurch sicher zu fühlen. Sie griff in der Anfangsphase periphere Bewegungen auf, die sie in der Gruppe sah, ohne selber welche vorzugeben. Im Verlauf ging sie zu zentraleren Bewegungen über, die als therapeutische Intervention intensiviert werden konnten. „Durch Vergrößerung, Verstärkung, Verdeutlichung eines Raumweges schuf sie die Möglichkeit, den emotionalen Gehalt der Bewegung fühlbar werden zu lassen.“ (Kletti-Ranacher, S. 36)

Kletti-Ranacher schreibt zum Ende des Artikels: „Ich selbst habe mit dieser Methode immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sie mich zurückführt zum Ursprung, zu dem, was den Tanz in seiner Besonderheit für die Therapie ausmacht, u.a. sich „ganz“ auszudrücken, im Fluss und dadurch im Kontakt zu sich und anderen zu sein.“ (S. 36)

Scharf-Widder beschreibt die Arbeit mit symbolischen Bewegungen im Chace-Ansatz:

Auch die Durcharbeitung von Problemen ist auf der symbolischen Ebene möglich. Dabei spiegelt der Therapeut zunächst die symbolischen Bewegungen des Klienten, vermittelt ihm dadurch sein Verständnis und ermutigt ihn, mit seinen Bewegungen fortzufahren. Allmählich kann der Therapeut neue Inhalte hinzufügen und mit dem Klienten eine neue symbolische Interaktion schaffen. (Interventionen in der Tanztherapie (2009), S. 20)

Hier wird nochmal besonders deutlich, wie der Chace-Ansatz auf der nonverbalen Ebene arbeitet und Möglichkeiten bietet, im interkulturellen Kontext in der tanztherapeutischen Arbeit mit Flüchtlingen eingesetzt zu werden.

 

Trauma

Zusammen mit dem Thema ‚Tanztherapie‘ ist auch der Begriff ‚Trauma‘ bereits mehrfach in dieser Arbeit aufgetaucht und soll hier genauer untersucht werden, einschließlich seines Zusammenhangs zur Tanztherapie. Abgesehen davon, dass dieser Begriff auch im Alltag häufig verwendet wird, bedeutet er seinem griechischen Ursprung nach ‚Wunde‘. Die Verwendung laut Duden:

  1. (Medizin, Psychologie) starke psychische Erschütterung, die [im Unterbewusstsein] noch lange wirksam ist
  2. (Medizin) durch Gewalteinwirkung entstandene Verletzung des Organismus

Marianne Eberhard-Kachele beginnt ihren Fachartikel über „Mögliche Bewegungsmerkmale von Traumafolgen“ mit den folgenden Sätzen:

Ein Trauma wird als ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten definiert (Fischer / Riedesser 2009). Dieses Diskrepanzerlebnis erzeugt massiven Stress im Organismus des Betroffenen, der körperliche und psychische Schäden hinterlässt und Bewältigungsmuster anbahnt, die kurzfristig adaptiv sind, sich jedoch langfristig als maladaptiv erweisen (Hüther 2002).[4]

Im Folgenden zeigt Eberhard-Kachele Phänomene und Merkmale in einer Tabelle auf, die bei einem Trauma auftreten können und ihre Diagnostik unterstützen können[5], und stellt sie jeweils dem integrierten Phänomen gegenüber[6]:

‚Allgemeine tanztherapeutische Prinzipien im Umgang mit traumatisierten PatientInnen“ haben Claudia Schedlich und Erika Sander zusammengestellt, die auch die Methode der traumaadaptierten Tanztherapie entwickelt haben:

  1. Transparenz bezüglich des Vorgehens, der Übungsstruktur oder der Zielsetzung, um Kontrolle über das Geschehen zu ermöglichen und somit Angst zu reduzieren und das Arbeitsbündnis zu stabilisieren. (…)
  2. Die Therapeutin unterstützt die Patienten, Bedürfnisse, Wünsche, Körpererleben oder die eigenen Grenzen wahrzunehmen und zu kommunizieren. (…)
  3. Abwehrstrategien werden im Sinne einer traumakompensatorischen Fähigkeit verstanden, akzeptiert und gestärkt, wobei eine eventuelle Dysfunktionalität thematisiert wird. (…)
  4. Es wird keine! kathartische Körperarbeit angeboten, sondern stabilisierend, ich-stärkend und ressourcenorientiert vorgegangen. (…)
  5. Konfliktzentriertes und traumaexploratives Vorgehen darf erst nach Herstellung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung und nach ausreichender Befähigung zur Stabilisierung erfolgen. (…)
  6. Mit Hilfe der tanztherapeutischen Angebote werde die Patienten zu Selbstbestimmung und Übernahme von Selbstverantwortung aufgefordert, um das Prinzip der Selbstwirksamkeit erfahren zu können. (…)
  7. Beim verbalen (!) Durcharbeiten des Traumas können Körpersensationen, Körpererinnerungen oder dissoziative Zustände auftreten. In diesem Fall gilt: Distanzierungstechniken anbieten und Integration des Erlebens über kognitive Reflexion und Differenzierung fördern. (…)
  8. Bei Erfahrungen, die v.a. emotional-körperlich gemacht werden, bleibt der kognitiv-reflexive Austausch bestehen, um das Erlebte kognitiv zuordnen und damit Kontrollmöglichkeiten entwickeln zu können. (…)

In diesen Prinzipien wird sehr viel von der Methode der traumaadaptierten Tanztherapie deutlich, wie gearbeitet wird und mit wem, und was im Besonderen zu beachten ist.

Im Zusammenhang mit dem Begriff Trauma fällt auch immer wieder der folgende Begriff:

 

Resilienz

Der Begriff Resilienz kommt vom lateinischen (resilire = zurückspringen) und bedeutet laut Duden „psychische Widerstandskraft; Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen“.

Christina Berndt beschreibt in ihrem Buch „Resilienz; Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft“ (2013) sehr eindrücklich die Ursachen von Resilienz aus den Bereichen der Umwelt, der Neurobiologie,  der Genetik und der Epigenetik[7]. Sie zeigt auf, dass eine Stärkung der Resilienz unabhängig von Alter und Geschlecht, Bildungsgrad und Schwere vorhandener Traumata möglich ist. Wichtige Eigenschaften und Merkmale sind (S.68ff):

  • Die Fähigkeit, förderliche Beziehungen einzugehen und sich Unterstützung bei Personen oder Institutionen zu holen
  • Ein freundliches, waches, offenes und wenig impulsives Temperament
  • Emotionale Ausgeglichenheit, Ausdauer und Optimismus
  • Frusttoleranz, Kraft und Durchsetzungsvermögen
  • Ein Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft
  • Vertrauen in die Bedeutung der eigenen Person und des eigenen Handelns
  • Der Glaube an einen höheren Sinn im Leben
  • Eine positive Weltsicht, Enthusiasmus
  • Intelligenz, u.a. um eine Lage durchschauen, Alternativen zu ersinnen und diese auch umsetzen zu können
  • Humor und Flexibilität, auch in schwierigen Lebenslagen
  • Eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung und Selbstbewusstsein
  • Zu wissen, wann es sich zu kämpfen lohnt
  • Hohe Sprachfertigkeiten, Neugier
  • Dosierte Anforderungen und Verantwortung
  • Krisen als Anlass für Entwicklung nutzen
  • Eine stabile Persönlichkeit, Dankbarkeit
  • Achtsamkeit und Muße

 

„Im Vergleich zu früheren Ansätzen ist es heute erwiesen, dass Resilienz kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal bezeichnet“, betont Corina Wustmann Seiler daher. Die Wurzeln für die Entwicklung von Resilienz liegen in besonderen risikomindernden Faktoren, die sowohl in der Person als auch in ihrer Lebensumwelt lokalisiert sein können.“ (ebd., S. 74)

 

Berndt hat den „Road to Resilience“ von der American Psychological Association übersetzt, den ich hier in ihren Kernsätzen im Original wiedergebe[8]:

  1. Avoid seeing crises as insurmountable problems.
  2. Accept that change is a part of living.
  3. Move toward your goals.
  4. Take decisive actions.
  5. Make connections.
  6. Look for opportunities for self-discovery.
  7. Nurture a positive view of yourself
  8. Keep things in perspective.
  9. Maintain a hopeful outlook.
  10. Take care of yourself.

 

Ein verwandter Begriff zu Resilienz ist Salutogenese, im Gegensatz zur Pathogenese[9], den Aaron Antonovky, ein israelischer Gesundheitssoziologe entwickelte. Susanne Quinten leitet ihren Artikel „Gedanken über die salutogenetische Ausrichtung der Tanztherapie“[10] mit den Worten ein: „Aufgrund ihrer Historie, ihrer grundlegenden theoretischen Annahmen und ihrer Praxeologie kann man sagen, dass der Tanztherapie die salutogenetische Ausrichtung immanent ist.“

Im Anschluss beschreibt sie vier Merkmale salutogenetischer Ausrichtung einer tanztherapeutischen Arbeit:

  • Ausrichtung an der Gesundheitsentwicklung
  • Betonung der Ressourcen
  • Förderung der Zugehörigkeit und Teilhabe
  • Förderung der Mitverantwortung des Einzelnen für sein Gesundheitsverhalten

 

Yolanda Bertolaso hat in ihrem Buch „Resilienz in Pädagogik und Künstlerischer Tanztherapie“ (2009) bereits zwei Kernbegriffe in ihrem Titel vereinigt, aber leider verwendet sie die Hälfte des Buches damit, sich von den Inhalten anderer auf eine teils herabwürdigende Art abzugrenzen, die es mir schwer machen, unbefangen auf den Rest eingehen zu können. Trotzdem möchte ich ihren Ansatz kurz vorstellen, indem ich eine Gliederung von ihr aufgreife, denen jeweils in den folgenden Kapiteln die Erläuterung folgt (S. 189ff):

Künstlerisch professionelle, kognitionspsychologisch gestützte Tanztherapie und ihre therapeutischen Ziele und Interventionsmöglichkeiten

  • Aktivierung der Selbstheilungskräfte durch therapeutisch-kreative Interventionen – den „künstlerischen Funken entzünden“
  • Selbstakzeptanz; sanfte Korrektur versus brachialer Rollenwechsel; Respekt vor der Individualität
  • Die Persönlichkeit als Kaleidoskop – Im Gleichen immer wandelbar
  • Humor. Die heitere via regia zur Selbstakzeptanz. Ein Grundpfeiler von Pädagogik, Kunst und Therapie. Durch Humor lachend in den Spiegel schauen – Selbstidentifikation versus Frustration und Aggression
  • Balance als psychosomatischer Faktor im Tanz
  • Zum angemessenen Umgang mit Symbolen und Träumen in der Künstlerischen Handlungsaktivierenden Tanztherapie
  • Träume in der Tanztherapie

 

Ich hoffe, dass die Vorstellung des Begriffs Resilienz anhand der Werke dieser drei Frauen einen Einblick in die Chancen und Möglichkeiten dieses Ansatzes gibt. Gerade diese ressourcenorientierte Ausrichtung ist meines Erachtens nach sehr hilfreich und motivierend in Bezug auf die tanztherapeutische Arbeit mit Flüchtlingen und kann bestimmt eine gewisse Leichtigkeit in diese schwere Thematik bringen. Ewas davon ist auch bei den Erfahrungsberichten im Praxisteil spürbar.